SBA-THUN
HOME WHAT'S NEW ARCHIVES GUESTBOOK

Stern, Datum 20.11.1997, Ausgabe 48, Seite 226, Autor Brigitte Zander
Die Jagd nach dem Müll

ENTSORGUNG Die teuren Verbrennungsanlagen laufen nur noch auf Sparflamme, weil die Bürger ihren Abfall so fleissig sortieren und Firmen ihren Dreck so leicht verschieben können. Die Folgen: Die Gebühren haben sich fast verdoppelt, und Städte und Gemeinden importieren jetzt sogar Müll, um ihre Anlagen auszulasten.

Radi Zorovko hat den Gipfel seiner Karriere erreicht. Der 28jährige Bosnier thront im Heizkraftwerk München-Nord 30 Meter über dem Grossstadt-Müll. Per Knopfdruck dirigiert er die Arme eines stählernen Riesenpolypen, der tief im Abfallbunker unter ihm den angekarrten Dreck greift und auf ein Fliessband Richtung Öfen kippt.

Seinen Job hielt Radi lange für anrüchig, aber krisensicher: 'Müll hast du immer.' Doch es landet immer weniger davon in seinem Bunker. 750000 Tonnen könnte er im Jahr verbrennen, nur 520000 Tonnen bekommt er derzeit unter die Greifer. Ein älteres Heizkraftwerk im Münchner Süden muss jetzt sogar geschlossen werden, weil der Müll fehlt. Dieser Notstand ist keine bayerische Kuriosität, sondern ein bundesweites Problem geworden. In den 80er Jahren hatten Politiker und Experten prophezeit, dass die Konsumgesellschaft bald in ihrem Abfall ersticken würde. Die Deutschen wurden durch teure Kampagnen auf Müllvermeidung, -trennung und -verwertung eingeschworen. Was kaum jemand für möglich hielt: Die Appelle wirkten. Mit deutscher Gründlichkeit sammelten die Bundesbürger Papier, Flaschen, Dosen und Plastik, sortierten die Abfallstoffe und schleppten sie brav zu den Containern des Dualen Systems, von dem wiederum die Recycling-Industrie beliefert wurde. Produzierten die Deutschen 1990 noch 50 Millionen Tonnen unsortierten Siedlungsabfall (dazu gehören Haus- und Gewerbemüll, Sperrmüll und Strassenkehricht), so fallen heute nur noch 30 Millionen Tonnen Restmüll pro Jahr an. Weitere 5,8 Millionen sammelte das Duale System. Umgekehrt haben sich die Müllgebühren in den vergangenen fünf Jahren im Bundesdurchschnitt fast verdoppelt. Der Grund für dieses Paradoxon: Alarmiert von den düsteren Prognosen der Müll-Propheten, hatten die Kommunen damals den Bau gigantischer Verbrennungsanlagen in Auftrag gegeben. Heute gibt es 55 solcher Entsorgungsparks, die 12,4 Millionen Tonnen Abfall im Jahr beseitigen könnten wenn sie ihn denn hätten. Denn traditionell landet der meiste Müll auf den 470 deutschen Deponien, die noch eine Aufnahmekapazität von rund 500 Millionen Tonnen haben. 'Viele Öfen sind durchschnittlich nur zu 70 bis 80 Prozent ausgelastet', meldet das Umweltbundesamt in Berlin. Die Betriebskosten allerdings sind weitgehend unabhängig davon, wieviel verbrannt wird. Der Wahnsinn geht weiter. Sieben Gross-Öfen sind noch im Bau, die weitere 1,6 Millionen Tonnen verbrennen könnten. Zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen. Dort hat das Umweltministerium für seine 14 Anlagen eine Überkapazität von 700000 Tonnen errechnet. Trotzdem wird Anfang des nächsten Jahres in Köln das 15. Müllwerk für weitere 420000 Tonnen Abfall angefahren. Damit die Bürger dadurch nicht noch mehr geschröpft werden, will die grüne Umweltministerin Bärbel Höhn offiziell für den Import von Müll aus anderen Bundesländern werben. 'Bei uns kostet dann das Verbrennen einer Tonne 170 bis 200 Mark', kündigte der Leiter ihres Abfallreferats, Harald Friedrich, an. An Müll mangelt es jedoch allerorten. In Baden-Württemberg sei keine der fünf Verbrennungsanlagen ausgelastet. 'Überall könnte man 20 bis 25 Prozent mehr Abfall verbrennen', erklärte der Karlsruher Stadtdirektor Peter Blank jetzt auf einer Tagung in Heidelberg. Die aufwendig nachgerüstete Müllverbrennungsanlage in Neu-Ulm warb in der Testphase um Unrat zum Dumpingpreis von 150 Mark pro Tonne aus der weiten Nachbarschaft, um die Öfen richtig durchzubrennen. Die realen Kosten lagen bei 415 Mark. Auch der Frankfurter Umlandverband, der seine alte Schadstoffschleuder in Offenbach-Heusenstamm für 209 Millionen Mark modernisiert hat, steckt im Müllnotstand: Seit 1989 ist der heimische Abfall von 2,2 Millionen auf 758000 Tonnen geschrumpft. Schuld am 'Müllmangel' und den hohen Kosten sind auch Bonner Vorschriften, die Müllschiebern viele Schlupflöcher eröffnen. 1993 erliess das Bundesumweltministerium die 'Technische Anleitung Siedlungsabfall' (Tasi). Danach müssen Haus-, Gewerbe- und Sperrmüll sowie Kehricht spätestens vom Jahr 2005 an verbrannt und die Schlacke auf bis dahin teuer nachgerüsteten Deponien gelagert werden. Findige Deponie-Betreiber nutzen diese Schonfrist, um ihre Löcher mit allem Dreck, der herbeizuschaffen ist, aufzufüllen und sie 2005 einfach dichtzumachen. Mit Dumpingpreisen jagen sich die Kommunen nun gegenseitig den Müll ab. Ein besonders ruinöser Wettbewerb herrscht in den fünf neuen Bundesländern, die noch über rund 200 alte Kippen ohne Drainagen und Sammelvorrichtungen für Gase oder Sickerungswasser verfügen. Zum Beispiel die alte Kalihalde Sonderhausen in Thüringen oder das berüchtigte Tiefbaurestloch Lochau bei Halle in Sachsen-Anhalt, wo 'der Müll praktisch direkt ins Grundwasser gekippt wird', so ein Insider des Umweltbundesamtes. Und zwar für nur 20 bis 90 Mark die Tonne. 'Auf den schlechten Deponien landet zu billigsten Kosten der meiste Müll', klagt die grüne Landesministerin Bärbel Höhn. Und ihr Ex-Kollege Fritz Vahrenholt (SPD) in Hamburg warnt: 'Die Tasi programmiert den Umweltskandal für die nächsten Generationen.' Selbst die grösste deutsche Müllkippe Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern, die bereits saniert worden ist, lohnt mit ihrem Preis von 200 Mark pro Tonne noch die Anfahrt über viele 100 Kilometer. In Schönberg jetzt in Ihlenberg umgetauft landeten im vergangenen Jahr 700000 Tonnen Müll, davon nur 200000 Tonnen aus dem eigenen Einzugsbereich. 'Viele Kunden kommen auch von ganz weit her', sagt der Deponie-Chef Gerd-Jürgen Bruckschen. Sogar aus Süddeutschland. In Kempten im Allgäu haben fünf private Entsorger-unternehmen mindestens 3000 Tonnen heimischen Abfall auf billige Ostdeponien gekarrt, anstatt ihn für 450 Mark pro Tonne an die lokale Wiederverwertungsanlage zu verfüttern. Den damit verbundenen Gebührenausfall schätzt der Zweckverband für Abfallwirtschaft in Kempten auf 1,4 Millionen Mark. Den Mülltourismus hat das Bonner Umweltministerium 1996 mit dem neuen Kreis-laufwirtschafts- und Abfallgesetz sogar noch forciert. Es erlaubt der Wirtschaft, ihren Abfall sofern er noch Wertstoffe enthält eigenverantwortlich zu entsorgen, anstatt ihn wie früher der kommunalen Abfallentsorgung kostenpflichtig abzuliefern. Das nutzen Industrie und Gewerbe weidlich aus. 'Da packen Firmen altes Holz und eine Schicht Zeitungen auf ihren Abfall und deklarieren ihn als Abfall zur Verwertung', berichtet der SPD-Bundestagsabgeordnete Reinhard Schultz. Die Firmen schicken ihren aufgepeppten Müll zunächst in Sortieranlagen, wo das wenige Wiederverwertbare herausgefiltert wird. Der grosse Rest verschwindet dann in der Grauzone der Müllmafia. Für diese Drecksarbeit verpflichten gewerbliche Abfallerzeuger oft private Entsorgungsunternehmen, die schriftlich versichern, dass sie das 'Wirtschaftsgut einer ordnungsgemässen, schadlosen Verwertung zuführen. Mehr wird vom Gesetzgeber nicht verlangt', kritisiert der SPD-Mann Schultz. Aufsicht oder Kontrollen? Sieht das Kreislaufwirtschaftsgesetz nicht vor. 'Eine legalisierte Müll-Waschanlage', schimpft Schultz. Die Folge: Seit einem Jahr fehlen 30 bis 40 Prozent vom üblichen Gewerbemüll, beklagen Betreiber von Müllverbrennungsanlagen. In Augsburg zum Beispiel hat der 1995 eröffnete Ofen Platz für 220000 Tonnen, kann aus seinem Einzugsgebiet aber nur halb soviel zusammenkratzen. Örtliche Gewerbebetriebe gehen lieber fremd, als ihren Abfall in der modernen und umweltfreundlichen Müllverbrennungsanlage für 810 Mark pro Tonne abzuliefern. Der Gebührenausfall allein 1995: schätzungsweise 32,4 Millionen Mark. Auch im Ausland wird heftig um Müll aus deutschen Landen gebuhlt zu Preisen von 180 bis 200 Mark pro Tonne bieten die Nachbarländer die Verbrennung in Öfen an, die selten den strengen deutschen Umweltkriterien entsprechen. Dieser Irrwitz stinkt allmählich zum Himmel. Deshalb schlossen sich Umweltpolitiker von Hamburg bis München über alle Parteigrenzen hinweg zur 'Länderarbeitsgemeinschaft Abfall' zusammen. 'Wenn Abfall den Weg des geringsten Geldes sucht, ist das nicht nur ökologisch schlecht, sondern auch volkswirtschaftlich unvernünftig', sagt der ehemalige Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt. Mit Merkblättern und Erlassen versuchen jetzt die verschiedenen Landesbehörden, den in ihren Grenzen anfallenden Müll in die eigenen leeren Öfen zu zwingen. Einzig der Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft (BDE) plädiert angesichts der gegenwärtigen Misere für den Ausbau der Verbrennungsindustrie. Die Dreckstoff-Branche, die bereits einen Jahresumsatz von 80 Milliarden Mark macht, hofft auf eine neue Hochkonjunktur nach 2005, wenn nicht mehr wild deponiert werden darf. Dann müssten 30 weitere Gross-Öfen her, propagiert der BDE. Dagegen kämpfen vor allem die Hardliner der Grünen, die mit einem 'besseren Müllkonzept' in den Bundestagswahlkampf ziehen wollen. Sie sind gegen jede Verbrennung, statt dessen für eine noch rigidere Abfallvermeidung. Was dann noch in einer üppigen Konsumgesellschaft übrig bleibt, soll in biomechanischen Anlagen zerkleinert, verrottet, vergärt und ausgetrocknet werden und dabei um 30 bis 50 Prozent schrumpfen. Optimistische Fans dieses kalten Verfahren hoffen sogar auf 80 Prozent Müllschwund. Ob das in grossem Stil klappt, ist noch unsicher. Bisher laufen erst 14 Test- und Pilotanlagen, etwa in Gailberg bei Münster oder in Asslar bei Wetzlar. Der Vorteil der biomechanischen Alternative: Die Anlagen sind kleiner und billiger und können folglich flexibler auf wechselnde Müllmengen reagieren. Ein Nachteil: 'Es gibt gewisse Geruchsemissionen, wie beim Komposthaufen', räumt Jutta Schreiner vom Referat Umweltschutz im BUND ein. Den Anwohnern einer neuen Biomüll-Vergärungsanlage im bayerischen Brunnthal stinkt nicht nur der 'Mief, je nachdem, wie der Wind weht'. Sie fürchten auch die Verbreitung von Schimmelpilzen und Bakterien. Deshalb klagt Brunnthals Bürgermeister Prell in zweiter Instanz gegen das Landratsamt, das die 33-Millionen-Mark-Anlage gegen den Willen der Gemeinde genehmigte. Ein Urteil steht noch aus. Ebenso wie die Antwort der Grünen, was mit den dann 62 Verbrennungsanlagen in Deutschland passieren soll, wenn ihr Müllkonzept durchzusetzen wäre. Radi Zorovko auf seinem Bagger über dem Müll von München-Nord wäre dann wohl arbeitslos. Mitarbeit: Rahul Schwenk. Was hilft der Grüne Punkt? Experten kritisieren das Duale System Profiteur des gestiegenen Umweltbewusstseins ist das Duale System Deutschland GmbH (DSD), das Papier, Glas, Dosen sowie Kunststoff wiederaufbereitet. 'Ein gewaltig ausgeufertes Abfallverwertungs-System mit kartellartigen Strukturen', kritisiert Professor Erich Staudt, Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft der Uni Bochum. 'Da werden Überkapazitäten geschaffen und die wollen ausgelastet sein.' Das Recycling kostet jährlich 4,1 Milliarden Mark, die über den Grünen Punkt auf die Verbraucher abgewälzt werden. Die Kritik richtet sich vor allem gegen den gewaltigen Kostenaufwand, mit dem der Kunststoffmüll recycelt wird. 535000 Tonnen landeten 1996 in den gelben Säcken und Tonnen des DSD. 19 Prozent davon werden als Wertstoff deklariert ins Ausland exportiert, die restlichen 81 Prozent zu Granulat und weiter zu Parkbänken, Blumenkästen oder Schilderständern verarbeitet. Der recycelte Altkunststoff eignet sich wegen der noch enthaltenen Schadstoffe nur für Open-air-Produkte. Das alles kostet 3000 Mark pro Tonne. Pragmatische Abfallexper-ten plädieren dafür, den gelben Abfall lieber gleich in den Müllverbrennungsanlagen zu verfeuern zu einem Sechstel der Kosten. 'Die Verordnung programmiert den Umweltskandal für die nächsten Generationen' EX-UMWELTSENATOR FRITZ VAHRENHOLT AUS HAMBURG 'Es gibt gewisse Geruchsemissionen, wie beim Komposthaufen' JUTTA SCHREINER VOM BUND


TALK TO US
14.12.1997