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Der Bund, 03.01.2001, Ressort Biel / Seeland
Totgesagte leben länger

MÜVE / Kaum zu glauben: Nachdem die regionale Müllverbrennungsanlage Müve in Brügg während Jahrzehnten nur für negative Schlagzeilen gesorgt hatte, präsentiert sie sich heute als gesundes, nahezu schuldenfreies Unternehmen. Neue Köpfe, günstige Umstände und die Hilfe der öffentlichen Hand sind die Gründe für den Wandel.

Sechs Jahre ist es her, dass das Stichwort "Müve" die Menschen im Seeland in Aufruhr versetzte. Als die Verantwortlichen der Brügger Müllverbrennungsanlage im Dezember 1994 den Preis eines 35-Liter-Kehrichtsacks über Nacht von 1.20 Franken auf 2.50 erhöhten, reagierten die Verbraucher heftig: Zuerst kauften sie innerhalb weniger Stunden alle noch vorhandenen alten Kehrichtsäcke auf, dann verschafften sie ihrem Ärger in Leserbriefen Luft. Tenor: Jetzt reichts!

Heute, im Jahr 2001, ist die Müve kein Thema mehr, das für Emotionen sorgt. Diskret verbrennt sie Tag für Tag den Müll einer ganzen Region. Andere Anlagen mussten ihre Tarife in den vergangenen Jahren erhöhen, im Seeland wurde der Sackpreis wieder auf 1.80 Franken gesenkt. Die Müve ist nicht mehr ein Fass ohne Boden und liegt bezüglich Entsorgungstarife nur noch wenig über dem schweizerischen Durchschnitt. Für fette Schlagzeilen liefert sie jedenfalls keinen Anlass mehr.

Schulden bald getilgt
Dafür für erfreuliche Meldungen. So wurden die Aktionäre kürzlich informiert, dass die Müve demnächst schuldenfrei dastehen werde. Insbesondere werde sie den neun Gründergemeinden im Jahr 2001 die restlichen zwölf Millionen Franken eines 1997 erhaltenen 40-Millionen-Darlehens zurückzahlen - fünf Jahre früher als ursprünglich in Aussicht gestellt. Wer die Turbulenzen kennt, welche die Müve vor sechs Jahren an den Rand des Konkurses brachten (siehe Kasten), kann die Wende zum Guten kaum glauben. Doch für das unerwartete Happyend gibt es Gründe.

Einer ist das technische und unternehmerische Know-how, das nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft Einzug ins Unternehmen hielt. Zum Beispiel mit Stephan Birbaumer, der seit Februar 1995 Geschäftsleiter von Müve und ARA ist. Der Ingenieur hatte für einen Maschinenkonzern Grossanlagen im In- und Ausland in Betrieb gesetzt und verfügt über ein Nachdiplom in Unternehmensführung.

Unternehmerisches Denken
"Früher wurde eher verwaltet, heute gestalten wir", sagt Birbaumer. So wurde etwa die Verbrennungsleistung um fast einen Fünftel auf 40 000 Tonnen pro Jahr erhöht. Bei der halbjährlichen Ofenrevision sind heute die externen Spezialisten rund um die Uhr im Einsatz. Birbaumer: "Früher nahm man sich da sehr viel Zeit, es hatte ja sowieso nicht genug Kehricht. Wir begannen um zusätzlichen Abfall zu kämpfen, um die Anlage auszulasten." Mit Erfolg: Keine andere Müllverbrennungsanlage im Land weist eine so hohe Betriebsdauer pro Jahr aus wie die Müve.
Stephan Birbaumers Strategie: "Wir investieren nur in qualitative Verbesserungen, die sich längerfristig auszahlen." So wurde etwa der luftgekühlte Verbrennungsrost, der früher zweimal pro Jahr ersetzt werden musste, durch ein wassergekühltes Modell ersetzt. Das war zwar etwas teurer, ist dafür aber seit fünf Jahren im Einsatz.
Lobend über Birbaumer äussert sich Hans-Peter Nydegger, seit 1994 Finanzverantwortlicher der Müve: "Ihm kann man nichts vormachen. Wenn nötig, nimmt er die Ingenieure mit ein paar präzisen Fragen auseinander."

Neue Transparenz
Neben der höheren Auslastung sorgte ein massiver Personalabbau für Einsparungen. Genauso wichtig war die Einführung einer transparenten Buchhaltung und Finanzplanung. Hier gibt Birbaumer die Blumen an Hans-Peter Nydegger zurück: "Früher wusste niemand so recht, was wie viel kostete. Er schaffte Klarheit."

Es war denn auch Nydegger, der den Verwaltungsrat Ende 1994 überzeugte, die Tarife massiv zu erhöhen. Der darauf folgende Entrüstungssturm führte allerdings fast zum Ende mit Schrecken: Einige Gemeinden drohten, ihren Müll künftig andernorts zu entsorgen. Es brauchte viel Zureden der kantonalen Behörden, vor allem aber des neuen Verwaltungsratspräsidenten Ulrich Haag (dem heutigen Bieler Baudirektor), um sie zu besänftigen. Nydegger: "Er fand den richtigen Ton, um die Gemeinden zum Weitermachen zu motivieren."

Problem Altlasten
1995 wollte es die neue Crew um Haag genau wissen. Eine Analyse des Unternehmens zeigte, dass die Müve längerfristig nur eine Chance hat, wenn die finanziellen Altlasten getilgt werden könnten. Schliesslich erklärten sich die neun Gründergemeinden - sie hätten im Konkursfall am meisten Geld verloren - bereit, der Müve zinsgünstige Darlehen von 40 Millionen Franken zu gewähren, um teure Bankkredite abzulösen. Das Entgegenkommen kostete die Gemeinden zwar einige Hunderttausend Franken, und auch der Kanton zeigte sich mit einer 7-Millionen-Subvention spendabel. Doch die Rechnung ging auf: Dank massiv tieferen Zinslasten konnte die Müve die Tarife senken. Keine Gemeinde sprang ab.

Das Glück der Tüchtigen
Günstige Umstände brachten die Müve endgültig auf Erfolgskurs: In den letzten Jahren sanken die Preise für technische Installationen, und dank dem Deponieverbot ist Müll seit einem Jahr keine Mangelware mehr. Seitdem klar ist, dass sich der Bau einer Anlage in Thun verzögert, ist auch der Kanton heilfroh, dass es die Müve gibt. Martin K. Meyer, Vorsteher des Amts für Gewässerschutz und Abfallwirtschaft: "Es mag stimmen, dass nur wenige Grossanlagen langfristig konkurrenzfähig sind. Doch mittelfristig hat die kleine Müve gute Chancen."

Bleibt die Frage, was mit den Millionengewinnen geschieht, wenn die Müve ihre Schulden abbezahlt hat. Werden die Entsorgungstarife erneut sinken? Hans-Peter Nydegger warnt davor, übermütig zu werden: "Zuerst schauen wir mal, wie sich die neue Entstickungsanlage, die wir jetzt einbauen, auf den Betrieb der Anlage auswirkt. Wir wollen Schritt für Schritt vorwärtsgehen. Unser Ziel ist, die Anlage langfristig zu betreiben."
Langfristig heisst:
bis 2020. Dann nämlich wird die Lebenszeit der Müve abgelaufen sein. Sie wird selber zum Müll und muss abgebrochen werden.

Was kommt nach 2020?
Über einen allfälligen Ersatz, der mindestens 100 Millionen Franken kosten würde, mag jetzt noch niemand spekulieren. Immerhin gibt Martin K. Meyer zu bedenken: "Heute, wo es bei jedem neuen Projekt Einsprachen hagelt, ist ein bestehender Standort schon viel wert. Den gibt man nur ungern auf."

Die dunkle Vergangenheit der Müra
sms. Seit der Gründung des Gemeindeverbandes für Müllverwertung und Abwasserreinigung der Region Biel (Müra) im Jahr 1964 steckte in der Anlage der Wurm drin. Die anfängliche Kompostierung der Siedlungsabfälle erwies sich als ungeeignete Methode, und die 1976 eingeführte Verbrennung hatte die Betriebsleitung nie wirklich im Griff. Oft erfüllten neue, teure Anlagen die Erwartungen nicht und mussten für viel Geld umgerüstet und geflickt werden - zur Freude der beigezogenen Ingenieure und Generalunternehmer, die sich eine goldene Nase verdienten.

Auch hatte die Müra zu Recht einen schlechten Ruf als Dreckschleuder, welche die Böden in der Agglomeration Biel mit Schwermetallen verseuchte. Die neuen Bestimmungen der Luftreinhalteverordnung waren denn auch ein Grund, dass zu Beginn der Neunzigerjahre die ganze Anlage für 46 Millionen Franken saniert werden musste.

Rufer in der Wüste
Nicht nur die Technik hatte die Betriebsleitung schlecht im Griff. Gravierend war auch das finanzielle Chaos in der Müra. Jahr für Jahr nahmen die Delegierten murrend steigende Kosten und Budgetüberschreitungen zur Kenntnis. Als einsamer Rufer in der Wüste versuchte der Bieler Hans Kern den Delegierten vorzurechnen, wie schlecht die Müra-Leitung wirtschaftet und wie man es besser machen müsste. Die Müra sei zu klein, um jemals konkurrenzfähig zu sein und gleichzeitig die gigantische Schuldenlast abzutragen. Deshalb sei sie zu schliessen und der Müll in der Kebag in Zuchwil zu verbrennen.

Dramatisch wurde die Lage 1993 nach der Einführung der Sackgebühr. Die Müra konnte ihre Kosten nun nicht mehr auf die neun Verbands- und die neun Vertragsgemeinden abwälzen, sondern musste direkt die Verbraucher zu Kasse bitten. Doch der Mut zur Kostenwahrheit fehlte: Mit einem tiefen Sackpreis war die Bevölkerung zwar besänftigt, das Loch in der Kasse nahm hingegen beängstigende Ausmasse an.

1994 wurde der Gemeindeverband in zwei Aktiengesellschaften umgewandelt. Die ARA Region Biel AG gehört den neun Müra-Gründergemeinden Biel, Nidau, Brügg, Port, Ipsach, Bellmund, Leubringen, Sutz-Lattrigen und Mörigen. Aktionäre der Müve Biel-Seeland AG sind 52 Gemeinden, die das kantonale Abfallleitbild in einer Entsorgungsregion zusammenfasst.

MIKE SOMMER


TALK TO US
09.01.2001