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27. Dezember 2005, Neue Zürcher Zeitung
Von der Abfall- zur Verwertungsgesellschaft
Zürich produzierte 2004 deutlich weniger Abfälle als 2001


Seit 100 Jahren gibt es im Kanton Zürich Abfallverbrennungsanlagen. Dennoch wird pro Kopf noch praktisch gleich viel Abfall deponiert wie 1910. Es gibt aus der Abfallgeschichte aber auch Erfreuliches zu berichten: Die Abfallmenge sank seit 2001 deutlich, die Siedlungsabfälle pro Kopf legen nicht mehr zu, Separatsammlungen dagegen schon. Fachleute sprechen vom Übergang von der Abfall- zur Verwertungsgesellschaft.

Etwas neiderfüllt ist eine Gruppe von Betreibern von Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen dieses Jahr von einer Exkursion nach Japan zurückgekehrt. Verbrennungsanlagen geniessen dort wegen des sehr knappen Raumes grosse Akzeptanz, auch wenn sie mitten in Wohngebieten stehen. Gewisse Anlagen locken sogar mit Freizeitangeboten. An der Notwendigkeit der Anlagen wird indessen auch hierzulande nicht gezweifelt, produzieren doch auch Zürcherinnen und Zürcher Abfall in rauen Mengen. Das Statistische Amt des Kantons Zürich zeichnet in einer eben erschienenen Publikation die Geschichte der Zürcher Abfallwirtschaft nach.

Gesammelte PET-Flaschen sind es nicht

Nachzulesen ist darin die erfreuliche Tatsache, dass die Gesamtmenge des im Kanton Zürich anfallenden Abfalls von 2001 bis 2004 um 15 Prozent auf 3,5 Millionen Tonnen gesunken ist. Das liegt allerdings kaum an retournierten PET-Flaschen, sondern an rückläufigen Zahlen bei den Bauabfällen und den Altlasten, die mit mehr als 2 Millionen Tonnen den Grossteil der Abfälle ausmachen. Die Gesamtabfallmenge könnte auch wieder steigen, sind Bauabfälle gemäss Erfahrung doch erheblichen Schwankungen unterworfen.

Auch bei den sogenannten Siedlungsabfällen, die Kehricht und separat gesammelte Abfälle zusammenfassen, sind im Kanton Zürich Fortschritte erkennbar. Zwar steigt die Gesamtmenge parallel zur Bevölkerungszahl nach wie vor an; sie lag 2004 bei 680 000 Tonnen. Zumindest bei der Abfallmenge pro Kopf scheint die Trendwende aber erreicht (siehe Grafik). Die Menge verharrt seit Anfang der neunziger Jahre bei rund 550 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Diese Stagnation folgt auf Jahrzehnte des ungestümen Wachstums. Während die Abfallmenge noch 1950 erst etwa 150 Kilogramm pro Kopf betrug, vervielfachte sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg.

Stoffe gelten nur noch kurz als Abfall

Gegensteuer gab man mit ersten Separatsammlungen in den 1960er Jahren. Seit dem Jahr 2000 wird weniger als die Hälfte der Stoffe, die wieder verwertet werden können, in den Kehricht geworfen. Diese Wende fand nicht bei allen Stoffen gleichzeitig statt. Beim Altglas wurde schon 1987 die Hälfte gesammelt, bei Papier/Karton war die Balance 1999 erreicht. Bei kompostierbaren Abfällen ist die Hälfte noch nicht erreicht. Freilich kann nicht alles, was theoretisch sammelbar ist, auch praktisch zurückgewonnen werden. Die Fachleute vom Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft gehen laut Bericht aber davon aus, dass bei kompostierbaren Abfällen sowie bei Karton und Papier noch erhebliches Sammelpotenzial besteht. Sie sehen in den Veränderungen der letzten Jahre den Übergang von der Abfall- zur Ressourcenwirtschaft. Der Abfallbegriff treffe auf immer weniger Materialien zu. Viele Stoffe gälten nur noch kurze Zeit als Abfälle. Schon heute würden pro Jahr beispielsweise 400 000 Tonnen Bauschutt in der Betonproduktion wiederverwendet.

Bis etwa 1965 wurde der grösste Teil der brennbaren Abfälle in Gruben und Deponien auf dem ganzen Kantonsgebiet abgelagert. Seither wird verbrannt. Das hatte zur Folge, dass seit zirka 1960 eine steigende Menge von Verbrennungsrückständen ebenfalls deponiert werden muss. Die Wirkung der Zürcher Verbrennungsanlagen ist eindrücklich: 25 Millionen Tonnen brennbare Abfälle sind in den letzten 100 Jahren im Kanton Zürich angefallen. Dank den Kehrichtverbrennungsanlagen mussten nur 11 Millionen Tonnen oder 45 Prozent davon deponiert werden. 14 Millionen Tonnen wurden, wie es im Bericht heisst, «vor allem in Form von Kohlendioxid und Wasser der Atmosphäre anvertraut».

Hat das Ganze auch etwas gebracht? Ist ein abfalltechnologischer Fortschritt erkennbar? Die Autoren erlauben sich, Fragezeichen zu setzen, schliesslich sei die Menge des pro Kopf deponierten Abfalls von 1910 (90 Kilogramm) bis ins Jahr 2004 (130 Kilogramm) praktisch gleich geblieben. Es sei also durchaus möglich, dass in der Abfallwirtschaft wie vor 100 Jahren mit der Einführung von Kehrichtverbrennungsanlagen wieder ein Schritt nach vorn getan werden müsse. Die aus Japan zurückgekehrten Betriebsleiter wüssten wohl Rat: Mehr Geld wäre nötig. Weil es in Japan an Deponieraum mangelt, werden Abfälle bei sehr hohen Temperaturen verbrannt und in Glasform in Baustoffe eingesetzt, schreiben sie in einem Bericht. Das sei zwar wesentlich teurer. Die höheren Kosten würden aber in Kauf genommen, weil die Abfallentsorgung dort als notwendige gesellschaftliche Dienstleistung gelte.

bto

Ausgelastete Schweizer Öfen dank deutschem Deponieverbot

In Deutschland fehlen derzeit Verbrennungs-Kapazitäten für vier bis sechs Millionen Tonnen Kehricht jährlich. Grund für das Defizit ist das am vergangenen 1. Juni in Kraft gesetzte Deponieverbot für Siedlungsabfall und Sperrgut. Zu den Profiteuren des Engpasses gehören die Zürcher Kehrichtverbrennungsanlagen (KVA). Seit einem halben Jahr übernehmen sie einen Teil des deutschen Abfalls. Koordiniert wird der Kehricht-Tourismus durch den Zürcher Abfallverbrennungs-Verband (ZAV), einen Zusammenschluss der Zürcher KVA. Der zuständige Mitarbeiter Adrian Aebersold ist in einer ersten Zwischenbilanz voll des Lobes: «Unsere KVA sind voll ausgelastet», sagt er.

Besserer Ertrag mit deutschem Kehricht

Zwar können wegen strenger deutscher Vorschriften bezüglich Dioxin nur die zwei Stadtzürcher KVA und die Kezo in Hinwil den deutschen Abfall verbrennen. Durch das Verschieben des kantonseigenen Kehrichts laufen die Öfen aber überall permanent auf vollen Touren. Auch Daniel Böni, Geschäftsleiter der Kezo, findet nur lobende Worte über die deutschen Einlieferungen. «Der Kehricht ist aufbereitet und daher von guter Qualität», so Böni, zudem nehmen die deutschen Lieferanten die Schlacke aus der Verbrennung zurück, und die Energieproduktion aus der Verbrennungswärme ist dank der besseren Auslastung höher als je zuvor. Zu guter Letzt stimme auch noch der Preis, den die deutschen Kunden bezahlen. Böni will zwar ebenso wie alle anderen befragten Exponenten keine genauen Zahlen nennen. Man darf aber von einem Preis von 150 bis 180 Franken pro Tonne ausgehen, dies entspricht ungefähr den Tarifen, welche die Zürcher KVA den Schweizer Gemeinden verrechnen. Dank den wegfallenden Kosten für die Schlackenentsorgung - sie wird von Metallrückständen befreit und deponiert - ist der Verdienst mit dem deutschen Kehricht aber besser.

Im Moment könnte man wegen der deutschen Entsorgungsprobleme deutlich mehr verlangen, sagt Marcel Müller, Geschäftsleitungsmitglied von Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ). Er nennt einen möglichen Tonnenpreis von 200 Euro. Die im vergangenen Frühjahr abgeschlossenen befristeten Verträge sehen aber fixe Preise bis Ende 2006 vor. Müller findet es richtig, dass der Spielraum nicht ausgereizt ist. «Es kann auch bei uns wieder zu Problemen kommen», sagt der ERZ-Mann, «und dann sind wir vielleicht froh um deutsche Unterstützung.»

Volle Auslastung bis mindestens 2008

Derzeit ist der Unterstützungs-Bedarf auf deutscher Seite aber eindeutig grösser. Adrian Aebersold vom ZAV berichtet von regelmässigen Anfragen aus Deutschland. Zu den Interessenten gehörten die Stadt München und einige grosse private Unternehmen, die im deutschen Kehrichtmarkt in den letzten Jahren grosse Anteile hinzugewonnen haben. Aebersold musste aber abwinken: «Wir sind mit den vereinbarten 80 000 Tonnen jährlich aus Deutschland derzeit ausgebucht.» Diese Menge entspricht rund 10 Prozent der im Kanton Zürich jährlich verbrannten Menge. Höher könne man nicht gehen, sagt Marcel Müller, denn der Schweizer Abfall habe bei der Planung immer Priorität.

Die hohe Nachfrage aus Deutschland ist voraussichtlich vorübergehender Natur. Bereits 2007 soll in Stuttgart ein Werk mit einer Jahreskapazität von 400 000 Tonnen, das entspricht rund der Hälfte des Gesamtvolumens der Zürcher KVA, in Betrieb genommen werden. Marcel Müller rechnet allerdings damit, dass die Zürcher Anlagen dank deutschen Lieferungen bis mindestens Ende 2008 voll ausgelastet sein werden.

ark



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05.01.2006