SBA-THUN
HOME WHAT'S NEW ARCHIVES GUESTBOOK

Trends 2015, Ideen, Fakten und Perspektiven, Gerd Gerken, Michael-A. Konitzer, Scherz Verlag, 1995
Mülltopia - Zukunft der Entsorgung


  • Zukunftsszenarium Einkauf
  • Der drohende Müll-Kollaps
  • Die abfallfreie Gesellschaft


    Die abfallfreie Gesellschaft
    Michael Braungart, Leiter des EPEA-Umweltinstituts in Harnburg, hat die Konzeption einer abfallfreien Gesellschaft bisher am konsequentesten angedacht. Für ihn, einen der renommiertesten Müllfachleute der Bundesrepublik, ist die Idee der müllfreien Gesellschaft keine Utopie, sondern zwingende Notwendigkeit. Braungart setzt bei seinem unkonventionellen Entwurf der Müllvermeidung nicht auf noch mehr Recycling oder glühendes Öko-Engagement jedes einzelnen Bürgers. Sein Prinzip lautet: "Zur Besserung des Menschen eignen sich Religionen, nicht Mülloder Recycling-Konzepte." Statt auf Appelle oder Verbote setzt er auf die freie Marktwirtschaft, die seiner Meinung nach nur konsequent angewendet werden müsste: "Der Kapitalismus muss ernst genommen werden. Die Verursacher von Müll, Gift oder Ressourcenverschwendung müssen zur Verantwortung herangezogen werden, nicht die Allgemeinheit. Wenn die Bürger für eine Minderheit den Kopf hinhalten müssen, damit die reich werden und machen kann, wie und was sie will, dann ist das , aber nicht freie Marktwirtschaft!" Braungarts Entwurf einer abfallfreien Welt setzt auf das Verursacherprinzip. Braungart will die Verantwortung für die Müllmengen, die bei der Produktion von Konsumgütern wie Autos, Fernseher, Computer, Radios, Haushaltsgeräte oder Büromaschinen etc. entstehen, an die Produzenten zurückgeben. Sein eleganter Lösungsvorschlag: Konsumgüter werden nicht mehr gekauft, sondern nur noch "geliehen" beziehungsweise geleast. Nach dem Gebrauch wird das Gerät an den Hersteller zurückgegeben, um dort fachmännisch demontiert, wiederverwendet oder verwertet zu werden. Ein logischer Gedanke. Denn wer wüsste besser, wie ein Produkt demontiert werden kann und welche Stoffe bei der Produktion zur Verwendung gekommen sind, als der Produzent selbst? Die Umstellung vom Kauf zum "Leihen" ist zudem die logische Konsequenz der künftigen Dienstleistungsgesellschaft. Statt Ware wird Nutzen verkauft. Michael Braungart bringt es auf den Punkt: "Wer Radio hören oder fernsehen will, möchte nicht Eigentümer gefährlicher Chemikalien werden!" Die Rücknahmeverpflichtung für Konsumgüter hat mehrere positive Effekte. Der Hersteller wird, wenn er seine eigenen Geräte entsorgen muss, keine Giftstoffe verwenden und die Produkte so konstruieren, dass sie möglichst einfach demontierbar sowie die Bestandteile sortenrein sind und folglich ohne Qualitätsverlust recycelt werden können. Denn nur so rechnet sich die Entsorgung, und nur so können seine Produkte zu einem konkurrenzfähigen Preis angeboten werden. Zugleich könnte der Hersteller dafür sorgen, dass seine Geräte langlebiger sind und sich besser reparieren lassen. So spart er nicht nur teure Rohstoffe, sondern muss auch weniger Abfall entsorgen. Ein Fachmann in Sachen Langlebigkeit ist der Schweizer Walter R. Stahel, Leiter des Product-Life Institute in Genf. Sein Vorwurf an die gegenwärtige Konsumpraxis lautet: "Die meisten Konsumgüter sind ein Beispiel für die fehlende Integration des Faktors Zeit: Gebaut und verkauft mit der Überzeugung, die beste Lösung aller Zeiten anzubieten, sind sie oft ohne Reparierbarkeit und ohne Anpassbarkeit an künftige Anforderungen ausgestattet." Stahel fordert statt dessen ein modulares Produktionsprinzip. Nur so können sich seiner Meinung nach Produkte an die sich immer schneller entwickelnden technologischen, wirtschaftlichen und modischen Fortschritte anpassen. Gerade die Mode ist für wirklich funktionierende Entsorgungskonzepte ein entscheidender Faktor. Heute noch trägt die Mode zur Kurzlebigkeit von Produkten wesentlich bei, doch Stahel sieht darin kein wirkliches Problem: "Dauerhaftigkeit von Gütern fordert nicht einen Verzicht auf Fortschritt, Komfort oder Modetrends." Die Produkte in einer abfallosen Gesellschaft sind keine unansehnlichen Müsli-Produkte, sondern weit schicker, weit moderner, weil intelligenter. Sie kommen, weil modular gebaut, sogar besser mit dem Innovationsgeist unserer Zeit mit. Michael Braungart stimmt zu: "Ich sehe kein Problem mit der Schnellebigkeit von Produkten, sofern sie nach kurzer Nutzungsweise vom Hersteller zurückgenommen und dann etwa mit einem neuen Design-Modul ausgeliefert werden." Zum Beispiel der Walkman: Hier können neue Designs und technische Neuerungen durch Module sehr effektiv dem Zeitgeschmack angepasst werden! Im Lauf der Zeit kommt das Modulprodukt sogar billiger, und in Modulbauweise kann zudem viel individueller angeboten und produziert werden. Dass der unmenschliche Besitzerstolz der Akzeptanz eines Leihund Leasing-Prinzips entgegenstellen könnte, sieht Michael Braungart indes nicht: "Man muss den Leuten nur klarmachen, wie sehr ihre narzisstische Seite gekränkt wird, wenn ihr liebgewonnenes Auto in Schredderanlagen sinnlos vernichtet wird. Es ist doch tröstlicher, wenn aus dem alten Auto ein neues entsteht. Nach dem Motto: neues Leben aus Autoruinen!" Das Leih-Prinzip muss sich nicht auf Geräte und Maschinen beschränken. So könnten, bis die Zeitungen papierlos per Computernetzwerk on line nach Hause geliefert werden, in der Zwischenzeit sogar Zeitungen geleast werden. Schliesslich will man Informationen geliefert bekommen und nicht Besitzer von Altpapier werden. Die Druckfarben könnten auswaschbar sein, und wenn der Zeitungsbote am Morgen die Zeitung bringt, könnte er die vom Vortag wieder mitnehmen. In der Druckerei werden die Farben weggewaschen - und das Papier kann fast ohne Qualitätsverlust wieder genutzt werden. Ein anderes Beispiel ist der Verkauf von Pestiziden in der Landwirtschaft. Auch hier funktioniert Michael Braungarts Leasingkonzept: "Die Bauern wollen nicht Besitzer von Gift sein, sie wollen nur ihre Ernte schützen." Nach Braungarts Vorstellungen sollen daher künftig die Hersteller der Pestizide selbst - statt der Bauern - ihre Mittel auf den Feldern versprühen. Erste Versuche von Ciba-Geigy waren sehr erfolgreich. Michael Braungart: "In diesem Fall sind die Chemiefirmen selbst am meisten interessiert, möglichst wenig Pestizide zu verwenden, denn jedes Gramm, das sie einsparen, vergrössert ihren Gewinn. Zugleich würden sie, weil sie für die möglichen Folgen ihrer Mittel haften müssen, umgehend biologisch unbedenkliche oder biologisch abbaubare Mittel entwickeln, die gefahrlos gespritzt werden können." Die "biologische Abbaubarkeit" ist neben dem Verursacherprinzip eine weitere wichtige Maxime in Braungarts Vision einer müllfreien Welt. Er fordert daher die forderte Entwicklung "intelligenter", kompostierbarer oder rückstandsfrei biologisch abbaubarer Kunststoffe und Chemikalien. Auf automatischen Kornpostieranlagen würden solche Stoffe binnen Wochenfrist restlos zu Humus zerfallen. "Intelligente Kunststoffe" könnten die heute üblichen Verpackungen für Kleinartikel und Kosmetika (Shampoos, Sprays, Duschgels etc.) ersetzen und ebenso als Folien und Tüten zur Verpackung von Frischwaren eingesetzt werden. Auch der riesige (Müll-)Berg von Einmalwindeln (1,5 Tonnen Müll pro Kind) wäre mit kompostierbaren Kunststoffen kein Problem mehr. Biologische Kunststoffe würden auch andere Produkte wie etwa Textilien, Bodenbeläge, Farben oder Tonträger, Disketten und Kassetten in recycelbare beziehungsweise problemlos kompostierbare Waren verwandeln. Der Effekt wäre gigantisch: Auf die Vielfalt unterschiedlicher Wert-, Glas- oder Bio-Tonnen könnte verzichtet werden. Wenn die meisten Verbrauchsgüter biologisch abbaubar sind, braucht jeder Haushalt nur noch eine Tonne, in die der dann unbedenkliche Müll "endlich wieder mit Lust und Laune" (Michael Braungart) geworfen werden kann. Noch besser als biologisch abbaubare Verpackungen (auch für deren Produktion braucht man Energie) ist aber der Verzicht auf Verpackung. Den überzeugendsten Ansatz einer "Nullverpakkung" hat das Forum Zukunft, die Denkfabrik der Ludwig Bölkow-Stiftung in Ottobrunn bei München, geliefert: den sogenannten Kundenkoffer (aus unserem oben skizzierten Szenarium), einen Transportbehälter, der computergesteuert aus grossen Warencontainern mit allen Produkten, die schütt-, riesel- oder fliessfähig sind, befüllt werden kann. Damit könnte rund die Hälfte aller Verpackungen im Einzelhandel überflüssig werden. Und keine Angst vor Uniformität und optischer Eintönigkeit: Solche Kundenkoffer werden mit Markensignets etc. (abwaschbar, recycelbar) bedruckt und individuell gestaltet. Sie sind ein wunderbares Feld für den Einfallsreichtum von Designern. Michael Braungart: "Ich wundere mich immer, wie Leute in ihren perfekt gestylten Küchen die knalligen und oft recht hässlichen Verpackungen der Hersteller ertragen. Dazu passt ein perfekt gestylter, wiederverwendbarer Behälter, der in einen Kundenkoffer passt, viel besser." Das einzige Problem auf dem Weg in eine müllfreie Zukunft ist die Akzeptanz solcher Konzepte und Produkte beim Kunden. Michael Braungart setzt hier vor allem auf wirkungsvolle Werbekonzepte: "Für ökologische Produkte muss genauso emotional geworben werden wie für andere Produkte. Warum soll ausgerechnet Ökologie immer mit Vernunft überzeugen? Falsch! Hier muss genauso mit Sinnlichkeit, Verführung und Imagewerten geworben werden wie für alle anderen Produkte. Man muss sogar so niedrige Instinkte wie Neid und Missgunst nutzen, um ökologisehe, abfallvermeidende Produkte durchzusetzen."



  • TALK TO US
    09.09.1998